Jensens Gedichte
Jensens Gedichte
mein Ratgeber
zu verlieren
die eigene Wichtigkeit
VÄTER & SÖHNE
Väter & Söhne
Eine Liebesode zum 11. Todestag
Hans Sienknecht : 12.08.1920 - 23.03.2006
Die quälenden Monate davor, Ärztegespräche, abermals Hoffnung, wiederkehrende Aussichtslosigkeit.
Aufschneiden: ›Ja? Nein?‹ , Chemotherapie: ›Auffrischung?‹
Dann noch eine Lungenentzündung und ein infiziertes Hämatom im Bauchraum. Am Abend vor deinem Tod fällt die Entscheidung:
Wir suchen ein Hospiz!
Dies lässt du nicht mehr zu. Du stirbst um Mitternacht. Von unserer Entscheidung weißt du nichts. Wir entschließen uns dazu nach dem Krankenhausbesuch beim Abendbrot bei deiner geliebten Frau, meiner Mutter. Vier Stunden zuvor.
Du hättest das wohl auch in dieser Eindeutigkeit nicht mitbekommen, so vollgepumpt mit Morphium. Aber ich weiß, dass du es wusstest.
Mein Verhältnis zu dir war nicht immer einfach. Aber geliebt habe ich dich immer, das hört nie auf.
Einmal Vater - immer Vater!
Über ein Jahr lang herrscht einst fast Funkstille, dann kommt dein Brief mit dem Schlussakkord: »Ich will nicht sterben, ohne vorher gewusst zu haben, was eigentlich los ist!«
Ich fahre sofort zu euch. Eine harte, ehrliche Aussprache, Tränen, Türknallen, Umarmungen. Elternliebe eben.
Hätte man auch schon vorher haben können! Norddeutsche Dickköppe, wir alle! Manchmal.
23.03.2017, wieder ein Donnerstag.
11 Jahre später, wie immer höre ich Variations On The Kanon By Pachelbel (komp. ca. 1699) - George Winston.
Eingespielt, bevor ich die Trauerrede halte.
Du im Sarg links neben mir. Neugierige Augen der stattlichen Trauergemeinschaft, die mich gespannt anblicken.
Verdammt lange 5:31 Minuten Musik, eine enorme Kraftanstrengung, die mir aber soviel schenkt.
Brahms Lullaby - Kenny G
Diese 3:21 Minuten braucht es noch für meinen endgültigen Frieden mit dir, meinem Vater.
Die Liebestrauerrede endet mit Jesu, Joy Of Man´s Desire - Kenny G
Ich kann befreit weinen, verneige mich vor meinem Vater, knie am Sarg nieder.
Ode für meinen Vater
Kurz nach Mitternacht, ganz früh am Morgen des 23. März, treffen sich im Klinikum Pinneberg zwei alte Männer.
»Du hast mich gerufen und da bin ich«, äußert der deutlich ältere Herr.
»Genau!«, erwidert mein Vater und sie geben sich die Hand.
»Morgen früh brauchst du mich nicht mehr zu wecken. Es ist genug der Quälerei! Lass gut sein!«
»Einverstanden!«, antwortet der alte Mann von dort oben. »Aber lass uns noch gemeinsam ein holdseliges Gutenachtlied zum Einschlafen singen. Soviel Zeit muss sein!«
Vater nickt.
»Gute Idee, es muss nur ruhig sein, keine Hektik verbreiten und eine langsame und versöhnende Melodie haben.«
Da lacht der alte Mann.
»Mensch Hans, du hast wohl lange schon mehr kein Abendlied gesungen! Die sind doch alle so komponiert! Aber deine Kinder und Enkelkinder sind ja schon groß. Sei es Dir verziehen!«
Und Gevatter Hans schüttelt die graue, in den letzten Monaten schütterer gewordene Mähne und meint:
»Ein bisschen was mit Niveau sollte es schon sein, der Gutenachtliedtext muss schon passen.«
»Kein Problem!«, kommt als Antwort und schon erklingt die erste Strophe.
›Guten Abend, gut Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck´.
Morgen früh, wenn Gott will,
wirst du wieder geweckt.‹
»Ja, das hat Stil«,
freut sich der im Sterbebett liegende Ehemann, Vater und Großvater.
Das beglückt den anderen alten Mann:
»Nun hör zu! Die zweite Strophe singen wir gemeinsam, sie passt ebenfalls. Wir haben uns ja schon am Heiligen Abend 2005 auf der Intensivstation des Albertinen-Krankenhauses einige Male getroffen und sind dein Leben noch mal durchgegangen.
Und ich», er streichelt dem Sterbenden noch einmal über die Stirn,
»war sehr damit einverstanden, dass du noch einmal nach Hause willst, um dich in Ruhe und Würde von deinen Liebsten zu verabschieden.»
Ein letztes Mal hebt Hans die Hand und lächelt verschmitzt.
»Das hab ich mir doch wohl auch verdient oder?!«
»Aber unbedingt!«, schmunzelt der kommende Hausherr.
Und dann singen sie noch in voller Harmonie die wunderbare zweite Strophe.
›Guten Abend, gut Nacht, von Englein bewacht, die zeigen im Traum, Dir Christkindleins Baum. Schlaf nun selig und süß, schau im Traum´s Paradies.‹
»Ach, war das noch mal schön!«, seufzt Hans selig. »Grüß sie alle!«
»Worauf du dich verlassen kannst, alter Kämpfer!«, lächelt der weise Himmelsmann. »Und nun mach die Augen zu. Gleich bist du erlöst!«
Wir alle hier in der Kapelle jetzt Trauernden haben noch eine gewisse Fristverlängerung.
Unser Sterben beginnt mit der Geburt und an jedem Morgen, an dem wir erwachen, stehen wir vierundzwanzig Stunden näher am Grab als am Tag zuvor.
Und was tun wir häufig?
Wir nehmen uns die Lebensfreude, ärgern uns über zu hart gekochte Frühstückseier, die verspätete S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit, sind genervt von arroganten Vorgesetzten und Kollegen, würgen uns mittags ein beschissenes, überteuertes Fastfood rein, stöhnen über norddeutschen Nieselregen, beklagen die Umstellung auf die Winterzeit, verurteilen manchmal unsere Kinder, die sich nicht genau so verhalten wie wir es gerne hätten.
Es ist schon seltsam:
Wir Menschen wissen um die Unausweichlichkeit unseres Todes. Doch es scheint kaum einen zu stören. Wir beschäftigen uns mit Nebensächlichkeiten als wenn das ewige Leben bevorsteht. Wir sehen stundenlang TV, zappen umher, streiten uns bei REWE in der Warteschlange oder um die Parkbucht, überlegen, ob der andere vielleicht ein Lächeln oder einen Gruß verdient hätte.
Vor allem ›arbeiten‹ wir daran, wie wir die Zeit tot schlagen sollen, während sie uns totschlägt. Und sind dann abends völlig erschöpft. Tagtäglich verbrennen wir unsere Seele ein winziges Stück mehr.
Bis es einen Anlass gibt, meistens eine schwere Krankheit oder der Verlust eines geliebten Menschen, der einen zur Besinnung und zum Umdenken kommen lässt.
Ein Wendepunkt im Leben meines von diversen kleineren, aber auch vor allem schweren Krankheiten heimgesuchten Vaters, war die erste Krebsdiagnose im Dezember 1982.
Weihnachten. Sofortige Magenoperation, ein Bangen und Hoffen, später die Gewissheit: Ja, ich habe diese Krankheit besiegt.
Und dann die jährliche, kräftezehrende Ungewissheit nach der Kontrolluntersuchung: Ist der Krebs zurückgekehrt?
Aber nie wurde lange zurückgeblickt, sich selbst bedauert mit der ständigen Frage: Warum gerade ich?
Nach vorne schauen. Bewertung: Es ist wie es ist.
Und dann: Was muss ich anders machen, wovon werde ich mich lösen, was ist mir in Zukunft wichtig?
Damals wird das Geschäft verkauft, der Lebensmittelpunkt wird bereits in Richtung Tangstedt verlagert.
Der größte Abschnitt seines Lebens, das durch einen harten Existenzkampf mit stark eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten geprägt ist, hat sein Ende gefunden.
Die Aufgaben im Lebensalltag meiner Eltern verändern sich. Der Mensch, der am meisten Hilfe und Zuwendung braucht, erhielt und erhält sie. Das ist ein wichtiger Eckpfeiler seines Daseins. Und es ist verdammt gut so! Es erfüllt seine Seele. Seine Enkeltochter!
Über zwanzig wunderbare Jahre mit seiner Ehefrau, angefüllt und bereichert durch Reisen und Begegnungen, liegen noch vor ihm.
Nun muss seine Ehefrau, unsere Mutter, auch wieder einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Und wenn wir ihr von ganzem Herzen danken für all das Geleistete, dann ist es ganz im Sinne von Hans.
Er weiß - und das hat ihn immer beruhigt - , dass sie nicht allein davor steht, sondern genau die Unterstützung erfährt, die sie braucht und die ihr gut tut. So wie er sie auch erfahren hat.
Wehleidig war mein Vater nie.
Erst in den letzten Tagen stöhnt er manchmal ›Ach Jens, was hab´ ich nur verbrochen? ‹ und Tränen schimmern oder rollen.
Er meint aber nicht sein zu Ende gehendes Leben, sondern nur diese sich seit Weihnachten hinziehende Achterbahnfahrt zwischen Quälerei und Hoffnung.
»Ach Vatter«, antworte ich, »du hast überhaupt nichts verbrochen. Du bist ein guter Mensch. Es soll so sein. Das stehen wir durch. Du solltest noch einmal zurückkommen.«
Ein kurzes Lächeln bricht hervor. »Na, wenn du meinst!«
Akzeptieren, was nicht mehr zu ändern ist, ohne großes Gezeter, das war sein Wesenszug. Er war eher still, hat aber seine eigene, begründete Meinung, manchmal auch ein wenig stur. Dann besteht er auf Betrachtungsweisen, die er für richtig hält.
Oh, wie viel Schiss ich hatte, meinem ehemaligen Klassenlehrer das bestellte Obst und Gemüse an die Tür bringen zu müssen.
›Können das nicht Ute oder Michi, meine Geschwister, machen?‹ , jammere ich. ›Sonst fragt er mich wieder, ob ich auch alle Hausaufgaben gemacht habe, weil ich mir da nicht mehr viel erlauben darf und beklagt sich über mein ewiges Dazwischenreden! ‹
Ein energisches Kopfschütteln: ›Das ist deine Aufgabe hier für die Familie, Ende! ‹
Noch ein Beispiel:
Unter dem Schauer nisten jedes Jahr die Schwalben auf den Balken. Und wie häufig, wenn Fütterungszeit ist, wir aber Kisten stapeln oder reinholen sollen, bekommt man den Segen von oben aufs Haupt, eklig! Aber da ist er unbeirrbar.
»Die Schwalben gehören immer schon zu diesem Haus. Das bleibt auch so. Müsst ihr eben besser aufpassen! Dussel! Ende!«
Manchmal finde ich seine notwendigen Strafen nicht unbedingt hart, aber ein bisschen peinlich.
Als ich mit einem Freund hinter dem Grundstück von Tante Erika und Onkel Heinz mit unseren Katschis hantiere, löst sich mittels höherer Gewalt
ein Stein aus der Schleuder und beendet tragischerweise das Leben des Hahnes vom Nachbargrundstück. Nun, der Täter wird natürlich ermittelt und die Opferfamilie zählt unglücklicherweise zur Stammkundschaft. Mit Blick in die gerade angeschaffte, neueste technische Errungenschaft, einer Tiefkühltruhe, findet mein Vater sofort die zündende Idee zur Wiedergutmachung: Abmarsch mit dem größten, tiefgekühlten Broiler zwecks Entschuldigung.
Bis heute weiß ich allerdings nicht, wie peinlich der Empfänger dies empfindet. Angenommen hat er den Vogel wenigstens. ›Ach, das tut doch nicht nötig! ‹
Und Humor, seinen ganz speziellen, verschmitzten, eher leisen, hat er auch besessen.
Nachdem der Greunhöker das Sortiment umstellt, noch mehr Frisch- und Qualitätsware anbietet, zum Beispiel die von Muttern selbst gekochte Rote Grütze, wobei uns häufig nur der Topf zum Ausschlecken übrig bleibt, da kommen auch neue, zahlungskräftigere Kunden. Der Grünwarenladen wandelt sich wieder zum Fruchthaus, heute würde man Delikatessengeschäft sagen.
Die meisten Kunden sind wirklich sehr nett, aber es gibt auch einige aus der Kategorie ›Ich kann nichts, ich weiß nichts, aber wir haben 'nen Sack voll Geld.‹
Die treten dann etwas arroganter auf. Eines Tages schneit eine pelzmantelbewehrte, völlig übertünchte Frau herein und kauft eine Obstmenge, die sie bequem in die Taschen ihrer Jacke hätte stopfen können.
›Ach, können Sie mir das nachher noch nach Hause anliefern lassen, Herr Sienknecht?‹
Und mein Vater, der diese Dame eh gefressen hat, meint ganz trocken und mit bedauernder, ernster Miene: »Das tut mir nun wirklich Leid! Unser Wagen ist gerade mit einem Bund Petersilie unterwegs! «
Ein herzallerliebstes, hochintelligentes: ›Ach, so! ‹ folgt.
Seinen Schalk hat er bis zum Schluss nie verloren.
Am Freitag vor seinem Tod will er noch einmal angreifen. Vielleicht verbessert ja die Gabe von zwei Blutkonserven seinen sehr schlechten Gesundheitszustand, so die vergebliche Hoffnung. Es sollte noch einmal ein CT des Bauchraumes gemacht werden und die Krankenschwester bittet meinen Bruder und mich, ihr zu helfen. Sie weiß schon, warum! Eineinhalb Liter Kontrastflüssigkeit in einer halben Stunde.
»Noch ´nen Longdrink, Papa. Einer geht noch! Einer geht noch rein!«
Aber nach drei Gläsern ist Schluss. Er grient uns an, zeigt zum Waschbecken »Komm, kipp weg die Brühe, ab in Ausguss, merkt sowieso keiner!«
Es soll nicht mehr sein. Nun ist er gegangen.
In den letzten drei Monaten besuche ich meinen Vater fast täglich und begleite sein Sterben.
Das lerne ich:
Wenn ich jemandem meine Zeit schenke, ihn zum Lächeln bringe, nachdem er traurig ist, wenn ich seine Tränen der Verzweiflung trocknen kann, dann werde ich selber froh und gelassen und fühle mich fast so gesund wie als kleines Kind. Und brauche keine Angst zu haben, dass mein Humor, ein großer Teil von mir, missverstanden wird, sondern dem anderen gut tut.
Am Ende des Lebens ist plötzlich die Rolle Kleinkind und Vater vertauscht:
Der große Sohn legt seinem Vater Windeln an.
Warum ist das nicht peinlich oder hat einen Hauch von Entwürdigung?
Weil es Dinge sind, die aus dem Herzen kommen. Wenn du das beherzigst, dann wirst du kaum unzufrieden sein oder dir ist etwas peinlich. Du wirst kaum neidisch sein auf Dinge, die jemand anders besitzt. Im Gegenteil: Du wirst überwältigt sein von dem, was zurückkommt.
»Ach Jens, das tut so gut!«, wenn ich ihm mit dem kalten, feuchten Waschlappen die Stirn wische und seine Lippen befeuchte.
»Ach mein Sohn, musst du jetzt nicht da und da sein? Du hast deinen Beruf, den du magst, deine Familie.«
Und ich:
»Unwichtig! Du zählst jetzt! Ich nehme mir für meinen sterbenskranken Vater die Zeit, die ich für wichtig halte! Die können mich mal! Ende!«
Wir sind allein und mein Vater weint. Ich streichle seine eingefallenen Wangen. Als Jugendlicher habe ich meinen Vater nur einmal weinen und verzweifelt erlebt und ihm versprochen, das für mich zu behalten. Unser Geheimnis.
Jetzt ist dieses Bild wieder da. Und dieses Gefühl, dass wir wieder eins sind.
Ein wortloses Verstehen.
Ich sitze an seinem Bett, klopfe ihm den Rücken, um den Schleim zu lösen. Unsere zeitweiligen Differenzen, Sturheiten, Rechthabereien, beiderseits, auch aufgelöst.
Und ich sage:
»Papa, wir müssen uns selbst verzeihen. Ja, wir beide, für all das, was wir nicht getan haben. All die Dinge, die wir hätten tun sollen. Wir können nicht in Reue darüber, was hätte geschehen sollen, stehen bleiben. Das hilft uns nicht, wenn wir dort oben vor der Tür stehen.«
Er nickt und streichelt meine Hand, während ich ihm die Stirn liebkose.
»Das haben wir getan, mein Sohn!«, flüstert er.
Und dann bewegen sich unser beider Lippen im Einklang. Zwei Stimmen erfüllen den abgedunkelten Raum:
Verzeihe dir selbst! Vergib anderen! Warten wir nicht!
»Jetzt bin ich aber wirklich todmüde. Sieh zu, dass du abhaust und grüß sie alle zu Hause!«, murmelt er.
Noch einmal streckt er den abgemagerten Arm, zeigt hinaus in den kalten, klaren Frühlingshimmel und seine letzten Worte sind, so glaube ich zu erinnern:
»Und dafür ist der Himmel da. Damit du dein Leben auf Erden kapierst.«
Ein letzter Kuss auf seine Stirn.
»Wir sehen uns dort oben und schnacken das alles durch. Zeit genug haben wir dann ja!«, meine ich.
»Damit brauchst du dich nun wirklich nicht zu beeilen!«, lächelt er und zwinkert mir zu.
Ein allerletztes Mal!
Der Tod
Donnerstag, 23. März 2006, mein Vater stirbt: Hans Sienknecht, geb. 12.08.1920. Das Obst- und Gemüsegeschäft: Hamburg-Schnelsen, Frohmestraße 14, Altländer Kirschen, heute wie immer frisch. Seine Mutter Anna Auguste, geb. Mähl, hilft in der Gemüseabteilung.